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Der Fluch der Gräfin

Martina Wildner

Struwwelpippi 2020/2021

 

Der Fluch der Gräfin

„Es ist doch schön hier“, sagte Mama und deutete aus dem Fenster.

Schwere Regenwolken hingen über der kleinen Stadt. Mir fielen vor allem die dunkelgrauen, von der Nässe glänzenden Dächer auf. Unten auf der Straße schlich eine einzelne Person über den ansonsten leergefegten Marktplatz.

Wir selber waren von den wenigen Schritten vom Auto zu der Wohnung, die wir für einige Wochen bewohnen sollten, pitschnass geworden.

„An der Decke ist ein Gesicht“, sagte ich.

„Stuck“, sagte Papa.

„Sehr schöner Stuck“, sagte Mama. „Und auch schönes Eichenparkett.“

„Wir sind auch privilegiert“, sagte Papa. „Weil wir reisen dürfen.“

„Toll“, sagte ich. „Aber ich bin ganz allein hier.“

„Du hast doch das Internet“, sagte Papa. Das Internet war auch der Grund, warum das überhaupt ging, was wir gerade taten: Meine Eltern hatten uns zu ihrem Forschungsauftrag mitgenommen, was unter normalen Umständen nicht möglich gewesen wäre, weil wir in die Schule hätten gehen müssen.

„Die Stadt ist wirklich ein Juwel“, sagte Mama.

Aber das Einzige, das entfernt Ähnlichkeit zu glitzernden Edelsteinen aufwies, waren die Wassertropfen, die von der Dachrinne aufs Fenstersims fielen. Unten auf der Straße hatten sich riesige Pfützen gebildet.

„Und außerdem gibt es doch auch hier Mädchen in deinem Alter“, sagte Papa. Er war ein hoffnungsloser Optimist.

„So, wo denn?“, fragte ich. „Sitzen die da unten im Regen auf dem Marktplatz und warten auf mich?“

„Man spricht hier Deutsch“, sagte Mama, „und du könntest dein Französisch verbessern“.

„Pfff.“ Petite heißt klein, Marquise Gräfin und Sens Unique Einbahnstraße!“

Ja, genau Einbahnstraße. So fühlte ich mich: Als sei ich in einer Einbahnstraße, die gleichzeitig eine Sackgasse war.

Das ehemalige Hotel À La Petite Marquise – der Name war in den letzten Tagen mindestens hundert Mal gefallen – sollte für einige Wochen der neue Arbeitsplatz meiner Eltern sein und die Wörter Sens Unique las ich auf dem Einbahnstraßenpfeil unten vor unserem Haus.

„Kann ich schon alles“, fügte ich eine Spur größenwahnsinnig hinzu.

„Es sind ja nur sechs Wochen“, sagte Mama. Und danach wird eh alles besser.“

Was sie mit diesem Nachsatz meinte, erschloss sich mir nicht ganz, aber sie sagte gerade öfter solche Sachen wie: Das wird schon alles wieder oder Es sind eben gerade schwere Zeiten oder Da müssen wir halt noch durchhalten.

Doch darum ging es doch gar nicht; es ging darum, dass ich sechs Wochen in einem fremden Land hockte und bis auf meine Eltern und meinen kleinen Bruder Eugen ganz allein war. Zu Hause gab es immerhin Lola, mit der ich mich manchmal zum Eisessen ging oder Jessy, die im Garten ein Riesentrampolin hatte oder Tamara, mit der ich im Park die neuesten Rollschuhmoves übte. Dort traf ich auch manchmal die Jungs aus der Klasse und wir kickten herum oder spielten Tischtennis.

Hier war niemand. Und es regnete.

Beides blieb die nächsten Tage so.

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